Das Gute und Gott bei Anselm

  Dem Menschen fällt es im Allgemeinen leichter, das zu glauben, was er mit seinen Sinnen wahrnehmen kann. An etwas zu glauben, was er nicht sieht oder hört, fällt ihm schwer. Wenn man mit Menschen spricht, wird man immer wieder merken, dass Gott für sie das Unsicherste ist, was es gibt. Ob es Gott gibt oder nicht, wüsste doch niemand wirklich sicher. Man müsse es eben glauben. Aber eigentlich sei es unvernünftig, an etwas zu glauben, was man nicht sieht.
Der hl. Anselm (geb. 1033 in Aosta, gest. 1109 in Canterbury, nachdem er 16 Jahre Erzbischof von Canterbury war) hat in diesem Zusammenhang eine interessante Behauptung aufgestellt. Obwohl er vollkommen in der katholischen Tradition steht und die Offenbarung der Heiligen Schrift und die kirchlichen Autoritäten anerkennt, behauptet er, dass es möglich sei, ganz ohne diese Voraussetzungen, allein durch die Vernunft, zu einer Erkenntnis Gottes zu gelangen. So schreibt er im ersten Kapitel seines Werkes Monologion (Selbstgespräche – dem er ursprünglich den Titel  Beispiel einer Betrachtung über die Glaubensgründe gegeben hatte):
“Nehmen wir an, es sei da ein Mensch, der wisse nichts davon, dass es ein Wesen, das höchste von allen, die da sind, gibt, das sich selbst in seiner ewigen Glückseligkeit genügt, das allen anderen Dingen durch seine Allmacht und Güte verleiht und gibt, dass sie überhaupt sind und dass sie in irgendeiner Weise gut sind, ein Mensch, der also von alledem und von dem vielen anderen, was wir von Gott und Seiner Schöpfung notwendig glauben, nichts wisse, weil er nichts davon gehört hat oder nicht daran glaubt; ich denke, solch ein Mensch müsste, wenn er nur einigermaßen bei Verstand ist, sich durch seine bloße Vernunft davon zu überzeugen vermögen.”
Und in der Vorrede zum Monologion berichtet Anselm, einige seiner Mitbrüder hätten ihn gebeten, seine Betrachtungen über das göttliche Sein niederzuschreiben. “Sie haben von mir [...] verlangt, [...] ich solle mich in meiner Beweisführung nicht auf die Autorität der (Heiligen) Schrift stützen, sondern jeden Schlusssatz der einzelnen Untersuchungen in gewöhnlichen Ausdrücken darstellen, so dass infolge allgemein verständlicher Gründe und einfacher Erörterungen sowohl die Notwendigkeit des Gedankenganges zwingend, als auch die Einsichtigkeit der Wahrheit offenkundig werde.”
Wir wollen hier versuchen, in knappen Zügen die Gedanken des Heiligen nachzuzeichnen. Wir beginnen zunächst bei der Idee des Guten, untersuchen dann, wie sich das Gute rechtfertigt und zeigen dann, wie sich Gott zum Guten verhält.
Das Gute. Anselm  verwendet, wenn er über das Gute spricht, verschiedene Ausdrücke. Die Hauptbegriffe sind: das Gute (bonum), Rechtheit (rectitudo), recht (recte), Gerechtigkeit (iustitia), Wahrheit (veritas). Diese Begriffe sind alle miteinander verwandt. Gerechtigkeit ist zum Beispiel “Rechtheit des Willens, bewahrt um ihrer selbst willen”1. Wahrheit ist “Rechtheit, allein mit dem Geist wahrzunehmen” 2. Und es ist nicht schwer zu erkennen, dass “Rechtheit des Willens” ein guter Wille ist und dass Rechtheit soviel bedeutet wie Gut-sein. Immer handelt es sich also bei diesen Begriffen um das sittlich Gute.
Der Frage nach der Rechtheit geht Anselm besonders in seinem Werk De veritate – über die Wahrheit nach. Unter anderem macht er dort den Leser darauf aufmerksam, dass die Rechtheit über den Geschöpfen steht und überzeitlich ist. Um das zu zeigen, bedient er sich als Beispiel der Behauptung. Eine Behauptung kann recht sein, also der Rechtheit entsprechen oder auch nicht. Sie entspricht ihr, wenn sie aussagt, was wirklich ist; sie ist nicht „recht“, wenn sie aussagt, was nicht ist, also lügt. Behauptet die Aussage etwas, das falsch ist, so besteht aber trotzdem weiter die Forderung, dass man aussagen soll, was wahr ist. Mit anderen Worten: Wenn ich mich auch nicht daran halte, die Wahrheit zu sagen, so besteht doch trotzdem die Forderung weiterhin, dass man die Wahrheit sagen soll. Die Rechtheit oder das Gute ist also nicht eine Eigenschaft wie z.B. die Farbe, die ein Gegenstand haben kann oder auch wieder verlieren kann; oder die mit dem Gegenstand zugrunde geht. Die Rechtheit besteht immer, unabhängig davon, ob ich mein Handeln nach ihr ausrichte oder nicht. D.h. sie ist unabhängig von allem Geschaffenen und überzeitlich. Was aber von der Behauptung gilt, gilt ebenso auch von allen anderen Handlungen, bei denen ich mich für oder gegen das Gute entscheide. Entweder ich entspreche dem Guten oder ich stelle mich dagegen. Egal wie ich mich entscheide, immer wird der Anspruch und die Forderung des Guten, dass ich es verwirklichen soll, weiterbestehen.
Wenn aber das Gute seine Existenz nicht aus den Situationen des Lebens, nicht von den Geschöpfen, ja nicht einmal von der Willensentscheidung des Einzelnen hat – denn die Forderung, eine wahre Aussage zu machen, besteht ja unabhängig davon, ob und wie ich mich entscheide -, woher dann?
Wir haben weiter oben schon erwähnt, dass Anselm zu einer Definition der Gerechtigkeit gelangt, die lautet: “Gerechtigkeit ist Rechtheit des Willens, bewahrt um ihrer selbst willen3. Denn wenn ich das Rechte tue, nur weil ich gezwungen werde oder nur um eines Lohnes willen, so kann mein Wille nicht gerecht genannt werden. Gerecht ist nur der, der das Gute tut, weil er das Gute tun will, also das Gute um des Guten willen.
An einer anderen Stelle finden wir ähnliches: “(...) da die Vernunft, mit der die Rechtheit eingesehen wird, lehrt, dass jene Rechtheit aus Liebe zu derselben Rechtheit zu bewahren ist (...)”4 Auch hier sagt er also, dass wir das Gute um des Guten willen tun sollen.
Diese Stellen zeigen uns, dass es nichts gibt, das über dem Guten stünde und auf das wir uns berufen müssten oder könnten, um uns zu rechtfertigen, wenn wir das Gute tun. Das Gute oder das Rechte erscheint als das höchste Prinzip, das alles andere rechtfertigt und keiner Rechtfertigung durch etwas anderes bedarf.
Die Erkenntnis des Guten. Wir sagten gerade, dass die Rechtheit aus Liebe zu ihr selbst bewahrt werden soll. Ich muss also die Rechtheit lieben. Das kann ich aber erst, wenn ich sie auch erkannt habe. Wie aber vollzieht sich diese Erkenntnis der Rechtheit? Wir haben gesehen, dass das Rechte das höchste Prinzip ist. Daher muss die Erkenntnis des Rechten eine unmittelbare sein, d.h. eine Erkenntnis, die keiner Begründung durch etwas anderes bedarf. Das ist ja auch gemeint, wenn wir sagen, das Gute rechtfertige sich selber. Denn wenn es sich selber rechtfertigt, dann bringt es den Grund für seine Rechtheit in sich selbst mit. Oder mit anderen Worten: man sieht die sittliche Rechtheit des Guten ein, wenn man erkennt, dass das Gute gut ist und somit auch sein soll und eben keiner anderen Begründung außer seiner selbst bedarf!
Das eben Gesagte meint auch folgendes Zitat des hl. Anselm. Es greift allerdings ein wenig voraus, da Anselm für das Gute schon Gott setzt, ein Schritt, den wir streng genommen erst weiter unten vollziehen werden.
“Nun [...] denkt man nicht nur auf eine einzige Weise. Eine Sache wird nämlich anders gedacht, wenn das sie bezeichnende Wort gedacht wird, als wenn das, was die Sache ist, erkannt wird. Auf jene Weise kann man allerdings denken, dass Gott nicht sei, auf diese aber ganz und gar nicht.  Niemand, der das Sein Gottes erkennt, kann denken, dass Er nicht sei, mag er auch diese Worte innerlich sprechen, mit oder ohne irgendwelche Kundgebung nach außen. Gott ist nämlich das, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann. Wer diesen Satz richtig versteht, erkennt, dass Gott so ist, dass Er nicht einmal in Gedanken als nicht-seiend gesetzt werden kann.” 5
Recktenwald sagt dazu: “Die Einsicht in diesen [...] Status der Rechtheit, der ihre Unabhängigkeit von allem, was ist, bedeutet, ist also nicht das abgeleitete Ergebnis irgendwelcher metaphysischer Prinzipien, sondern die Frucht der Einsicht in die Eigenart der Rechtheit selber. Sie ist der Inbegriff des zurecht um seiner selbst willen Gesollten. [...]  Diese Vermeidung (des naturalistischen Fehlschlusses) ist gerade keine bloße Denknotwendigkeit, sondern die Frucht der Einsicht in die Eigenart der rectitudo als die letzte, sich selbst rechtfertigende Instanz jeden Sollens.” 6
Mit anderen Worten. Die Rechtheit ist unabhängig von allem, was ist. Das erkenne ich nicht durch Ableitung aus darüberstehenden Prinzipien, sondern dadurch, dass ich das Wesen der Rechtheit (mit meinem geistigen Auge) einsehe. Das Rechte ist, was um seiner selbst willen gesollt ist. Und zwar zurecht. D.h. niemand kann ihm seinen Anspruch absprechen oder ihn leugnen. Natürlich kann man mit jedem möglichen Soll an jemand herantreten, d.h. man kann theoretisch alles mögliche von einem verlangen. Soll aber diese Forderung gerechtfertigt sein, dann muss sie sich auf die alles Sollen rechtfertigende Rechtheit berufen, d.h. sie muss zeigen, dass sie in Übereinstimmung mit dem Guten steht.
Gott ist der Gute. Kommen wir nun zur Frage, wie sich Gott zu diesem Guten verhält. Der Mensch ist gerecht, wenn er sich für das Rechte entscheidet und dadurch an der Gerechtigkeit teilnimmt. Bei Gott als dem höchsten Wesen kann es aber nicht so sein, dass Er gerecht ist dadurch, dass Er an einem von Ihm verschiedenen höchsten Rechten teilnimmt. Denn dann wäre Gott durch etwas anderes gerecht. Das höchste Wesen ist aber alles, was es ist, durch sich selber. “[...] allein das [ist] das höchste Gute, das allein durch sich selber gut ist”, sagt Anselm 7. Das höchste Wesen ist also durch sich selber gerecht und gut. Das heißt aber, dass Gott die Rechtheit selber ist. Bei Gott sind seine Existenz und seine Entscheidung für das Gute nicht zwei, wie bei uns Menschen, sondern eins; Gottes ganzes Sein besteht in seiner Rechtheit.
Das hilft übrigens auch zwei Fragen zu beantworten, die gelegentlich gestellt werden. Die erste ist, ob denn Gott nur deshalb gut sei, weil er dem obersten Gesetz gehorche. Nach dem oben gesagten wird man aber antworten, dass das absolut Gute nicht über Gott steht, sondern dass Gott der Gute ist. Die andere Frage ist, ob Gott aus reiner Willkür beschlossen habe, dass das Gute das Gute sei und dass auch das Böse das Gute hätte sein können, wenn Gott es so gewollt hätte. Diese Frage erweist sich als unsinnig, wenn man dem Gedankengang Anselms folgt. Denn die Werthaftigkeit in Form der Rechtheit wird unmittelbar als sich selbst rechtfertigend eingesehen und dann in einem weiteren Schritt als Gott (nicht nur mit Gott) identifiziert. Bei Gott ist also gar keine “Willkürentscheidung” für das Gute möglich, da Er seinem Wesen nach schon der Gute ist.
Bedeutung für unser Leben. Anselm findet also das höchste Prinzip im Guten, das von allem Geschöpflichen unabhängig ist; das  sich selber rechtfertigt und daher keiner Rechtfertigung von außen bedarf. Dieses Prinzip kann jeder Mensch einsehen, auch wenn er von Gott explizit noch nichts gehört hat.
Wenn wir dahin gelangt sind zu sehen, dass das Gute das einzige ist, das sich selber rechtfertigt, das überzeitlich ist und daher ewiges Leben in sich hat und dass Gott selber dieses Gute ist, dann werden wir auch sehen, wie wichtig es für uns ist, dass wir uns in diesem Guten verankern, indem wir ihm folgen und es zu unserem Willen machen. Dann werden wir auch erkennen, welch große Gnade und welch großes Geschenk uns die Kirche vermittelt, die Christus eingesetzt hat, um uns nach der Sünde wieder die Möglichkeit zu geben, wahrhaft Gerechte zu sein. Denn nur durch die Sühne, deren heilende Kraft ja in den Sakramenten wirkt, hat das Böse keinen Anspruch mehr auf uns, die wir uns einst ihm hingegeben haben - wir werden wieder frei, ganz auf der Seite des Guten zu stehen.
Wenn wir sagen, dass das Gute sich selber rechtfertigt und das höchste Prinzip ist, dann bedeutet das ja, dass es allein Leben aus sich selber hat und alles andere aus ihm. Das Böse ist nur Negatives und Verneinung. Das können wir auch auf ganz praktischer Seite feststellen. Stellen wir uns einen Menschen vor, der immer wieder Kompromisse mit dem Bösen und Unehrlichen eingeht oder eventuell durch dieses Verhalten schon in der schlechten Gewohnheit festgefahren ist. Mag er auch äußerlich mehr Erfolg haben, mag ihn auch dem äußeren Anschein nach in diesem Leben sein Unrecht nicht einholen, so hat er doch das wahre Leben nicht in sich. Der unrecht erlangte Erfolg etc. macht ihn nicht wahrhaft glücklich. Auf der anderen Seite können wir doch ein wirklich geistig erfülltes und von innerer Freude beseeltes Leben führen, auch wenn uns im Leben oft verschiedene Wechselfälle, ja Kreuze, begegnen. Das ist die Kunst des christlichen Lebens, die wir möglicherweise oft vergessen oder noch lernen müssen: Fröhlich zu sein auch wenn es hart zugeht. Und das können wir, wenn wir uns bewusst machen, dass wir in der Wahrheit und im Guten festgewurzelt sind. Im Guten, der sich selber rechtfertigt, der allein Leben aus sich hat.
Wir haben versucht, die Argumentation Anselms in Kürze darzulegen. Um seine Gedanken aber weiter zu verinnerlichen und zu einer lebenserfüllenden Überzeugung werden zu lassen, müssen wir sie immer wieder für uns selber überdenken und meditieren. Diese Grundwahrheit spricht Anselm im ersten Kapitel des Proslogion mit folgenden Worten aus:
“Nun denn, o Mensch, entflieh' ein wenig deinen Beschäftigungen, verbirg dich eine Weile vor deinen unruhigen Gedanken. Wirf jetzt von dir die lastenden Sorgen und lasse deine mühselige Arbeit. Wende dich ein wenig Gott zu und ruhe etwas in Ihm. Ziehe dich zurück in die Kammer deines Herzens, schließe alles aus, was nicht Gott ist oder was dir nicht hilft, Ihn zu suchen, und suche nach Ihm hinter geschlossener Tür. Sprich nun, du mein ganzes Herz, sprich so zu Gott: Dein Antlitz suche ich, Dein Antlitz, Herr, begehre ich.”

P. Johannes Heyne

1 De veritate XII
2 De veritate XI
3 De veritate XII
4 De concordia I, VI
5 Proslogion IV
6 Recktenwald Engelbert, Die ethische Struktur des Denkens von Anselm von Canterbury, Heidelberg 1998, S. 79f.
7 Monologion I


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